16.10.2025 von Maryna Smetana, Ukraine

Kampf an der Informationsfront

An diesem Morgen waren in Charkiw keine Sirenen zu hören. Nur zahlreiche Explosionen weckten die Einwohner der Millionenstadt, die im Osten der Ukraine an der Grenze zu Russland liegt. Genau dieses Datum wird allgemein als Beginn des umfassenden russischen Einmarsches in die Ukraine akzeptiert. Doch war es wirklich der Anfang dieses Kampfes?
Die Vorgeschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen ist sehr umfangreich. Der Kampf begann lange vor 2014, als die Krim annektiert wurde und der Krieg in der Donbass-Region ausbrach. Es war ein Kampf an der Informationsfront, auf der mit Worten und Fake News geschossen wurde.

Seit Zeiten der Sowjetunion kämpfen Ukrainer:innen gegen russische Propaganda. Ich bin bereits ein Kind der unabhängigen Ukraine. Ich wurde 1999 geboren, acht Jahre nachdem sich die Ukraine unabhängig erklärt hatte. Es fiel dennoch sehr auf, dass die ältere Generation, zu der auch meine Eltern und Großeltern gehören, anders dachte. In Alltagsgesprächen wurde dieser Unterschied noch deutlicher.
„Bist du der Klügste?“
„Sei still, fall nicht auf!“
„Halt den Mund, das geht dich nichts an!“

Diese und viele andere Sprüche haben Kinder damals ständig von ihren Eltern gehört. Es war ein Teil der Erziehungsstrategie in der Sowjetunion. Das hörte meine Mutter in ihrer Kindheit und dasselbe wurde mir später ebenfalls gesagt. Auch in der Schule mussten meine Eltern im Literaturunterricht darüber nachdenken, „was der Autor damit meinte“, und nicht, was sie selbst davon hielten. Man merkt es nicht sofort, aber mit solchen kleinen Worten wurden Menschen über Jahrzehnte geprägt und manipuliert. So entwickelte sich eine Angst davor, aufzufallen, kreativ zu sein oder unangenehme Fragen an das Regime zu stellen.

Propaganda kam aus vielen Quellen: aus Vereinen, in denen prorussische Narrative verbreitet wurden, aus Militärparaden und Feierlichkeiten zum Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, aus Traditionen sowie aus Serien, die das Bild tapferer sowjetischer Soldaten priesen. Da es in der Ukraine eine große russischsprachige Minderheit gibt, verfolgte die Propaganda das Ziel, die Selbstidentifikation der Menschen mit Russland zu stärken und eine Nostalgie für die Sowjetzeit zu wecken. Dieses Ziel wurde viele Jahre lang erfolgreich erreicht. Viele betrachteten Russland als einen „brüderlichen Staat“, der uns nur Gutes wünsche.

Ich wollte verstehen, wie diese Kommunikation funktioniert, warum diese Strategie so erfolgreich ist und vor allem, wie ich selbst damit umgehen kann. Deshalb habe ich mich für ein Journalismusstudium entschieden.
Dieser Kampf ist alles andere als einfach. Fakten zu überprüfen und die Wahrheit zu vermitteln ist viel komplizierter und erfordert deutlich mehr Ressourcen und Aufwand. Einige Jahre vor dem Krieg wurden die Propagandaangriffe viel intensiver. Nicht nur professionelle Journalist:innen, sondern auch gewöhnliche Bürger gründeten Fact-Checking-Projekte. Es gab Jugendinitiativen, die für die Verwendung der ukrainischen Sprache im Dienstleistungssektor kämpften. Diese Forderung sollte ausdrücken: „Nur weil es in Charkiw russischsprachige Menschen gibt, heißt das nicht, dass wir zu Russland gehören wollen.“ Die russische Propaganda nutzte dies jedoch als angeblichen Beweis für die „Unterdrückung der russischsprachigen Minderheit“ und als Rechtfertigung für militärische Aggression. Der Kampf ging immer weiter.

Wie hat der Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 die journalistische Arbeit verändert?

Die Gefahr konnte man schon vor dem Krieg spüren. Es ist dasselbe Gefühl wie vor einem schweren Unwetter: Die Sonne scheint ungewöhnlich hell, die Vögel zwitschern, aber man weiß trotzdem, dass es bald heftig regnen wird. Im Jahr 2021 arbeitete ich als Korrespondentin für Suspilne. Wir produzierten viele Nachrichtenbeiträge, in denen erklärt wurde, was man im Falle eines Krieges tun sollte, wie sich Freiwillige auf den Kampf vorbereiten und welche Maßnahmen die Stadtverwaltung für die Sicherheit traf. Obwohl viele Menschen nicht glaubten, dass „im 21. Jahrhundert jemand noch einen Krieg beginnen könnte“, war unsere Aufgabe als Journalist:innen, die Zuschauer:innen zu informieren und ihnen Sicherheitsregeln zu erklären. Es ist aber wie bei einem Erste-Hilfe-Kurs: Auch wenn man alles fleißig gelernt hat, ist man auf die Situation echter Gefahr nie wirklich vorbereitet.

23. Februar 2022.

Seit acht Jahren war der Krieg unglaublich nah an meiner Heimatstadt. Es war die Aufgabe der Journalisten, zu erzählen, was zurzeit in die Nachbarstädte passiert. Viele meine Kolleg:innen berichteten ständig von der Frontlinie. Ich erzählte darüber nur durch die Geschichten der anderen, die es selbst miterlebt hatten.

An diesem Tag kamen Kinder aus der Donbass-Region nach Charkiw. Eine Hilfsorganisation hatte dafür gesorgt, dass sie das Kriegsgebiet zumindest für eine kurze Zeit verlassen konnten und ein paar Kindheitserinnerungen sammeln durften. Am nächsten Morgen sollte die Gruppe mit Betreuer:innen in die westlichen Regionen der Ukraine fahren, wo die Kinder die Möglichkeit hätten, in Ruhe und ohne Explosionen zu leben. Ihre Eltern wollten ihr Zuhause nicht verlassen, wünschten sich aber, dass die Kinder eine Pause vom Krieg bekommen.

Für die Berichterstattung in den regionalen Nachrichten sind die Geschichten von Menschen unglaublich wichtig. Doch das, was diese Kinder erzählten, wird mir für immer im Gedächtnis bleiben.
Ich versuchte, mich auf dieses Gespräch vorzubereiten, denn Kinder sind sehr sensibel. Eine der Erzieherinnen, die die Gruppe begleitete, hatte auch Psychologie studiert und konnte mich unterstützen und mir erklären, wie ich mit den Kindern sprechen sollte. Auch wenn der Krieg die ganze Zeit so nah war, weiß man nie, welche Worte für Betroffene die richtigen sind.

Als ich zum Treffpunkt im Stadtpark kam, sah ich die lächelnden Kinder. Sie spielten, waren lebendig und laut, So, wie ich selbst in meiner Kindheit war. Natürlich fragte ich nicht direkt, was sie zu Hause erlebt hatten. Wir sprachen darüber, was sie vorhatten, wie sie die Stadt fanden und ob sie sich hier wohlfühlten. Doch sie begannen von selbst zu erzählen als hätten sie das Bedürfnis, ihren Schmerz mit jemandem zu teilen.

„Ich habe gestern so eine große Explosion gesehen!“, „Nein, ich habe etwas noch Schlimmeres miterlebt.“

Sie erzählten es ohne Angst, fast so, als wollten sie sich gegenseitig beweisen, wie stark sie seien. Erst als ein lautes, schrilles Geräusch zu hören war, zuckten sie zusammen und erstarrten, als wollten sie herausfinden, woher die Gefahr kam. Die Erzieherin erklärte, dass dies ein Schutzmechanismus des Gehirns sei.

In diesem Moment ahnten wir noch nicht, dass der Krieg uns dicht auf den Fersen war und am nächsten Morgen auch diese Stadt erreichen würde.

Kampf gegen die Panik

In Gefahrensituationen ist Panik unser schlimmster Gegner. Egal, was passiert ist, muss man weiter klar denken und Entscheidungen treffen. Auch in den Gesichtern meiner Familie sah ich diese Angst, obwohl wir schon viel über den möglichen Einmarsch des russischen Militärs gesprochen hatten. In solchen Momenten braucht es jemanden, der ohne Emotionen und verständlich erklärt, was getan werden muss und wie man sein Leben retten kann. Das war eine der Hauptaufgaben der Journalist:innen ab den ersten Minuten des Krieges.
„Sie müssen einen Notfallkoffer bereithalten.“
„Falls Sie hören, wie sich eine Bombe nähert, legen Sie sich auf den Boden, öffnen Sie den Mund und bedecken Sie den Kopf mit den Händen.“
„Wenn Sie keinen Bunker in der Nähe haben, bleiben Sie zu Hause in einem Raum ohne Fenster.“
Soziale Medien spielten dabei eine entscheidende Rolle, weil nicht alle Zugänge zu Radio oder Fernsehen hatten. Über Telegram erhielten die Menschen schnell aktuelle Informationen:
„In diesem Bezirk befindet sich der Feind.“
„Verlassen Sie Ihre Deckung nicht.“
„Gefahr eines Luftangriffs!“

Kampf gegen die Propaganda

Um auf den Gebieten erfolgreich zu sein, in die das russische Militär einmarschierte, war es wichtig, die Menschen voneinander zu isolieren. Deshalb wurden unglaublich viele polarisierende Narrative und Verschwörungstheorien verbreitet.

Ich erinnere mich noch gut an Meldungen, dass auf Wohnhäusern angeblich Kreuze mit leuchtender Farbe angebracht worden seien, damit der Gegner aus der Luft besser erkennen könne, welches Gebäude ein Angriffsziel sei und wo sich Menschen aufhielten. Es wurde behauptet, dass nur Bewohner:innen des jeweiligen Stadtteils solche Markierungen anbringen könnten. Das Ziel solcher Informationen war klar: Die Menschen sollten sich gegenseitig misstrauen und in Nachbarn, Freund:innen und sogar Familienmitgliedern mögliche Verräter sehen.
Außerdem wurde verbreitet, „alle hätten Charkiw (oder eine andere Stadt) vergessen“. Dadurch bekamen die Menschen das Gefühl, von der ukrainischen Regierung im Stich gelassen zu werden. Auf den besetzten Gebieten wurden die ukrainischen Informationsquellen sofort durch russische Propaganda ersetzt.

Als ich später, nach der Befreiung dieser Regionen, mit den Menschen dort telefonierte, sagten sie, dass sie sich völlig verlassen gefühlt hatten. Es war für sie sehr wichtig, Informationen von ukrainischer Seite zu erhalten und zu wissen, dass jemand sich dafür interessiert, was sie erlebt hatten. Auch diesen Kampf mit noch stärkerer Propaganda mussten ukrainische Journalist:innen führen.

Kampf mit Zahlen. Gesichter des Krieges

„119 Journalist:innen sind wegen des Krieges gestorben.“
„Bei russischen Luftangriffen auf Charkiw am Morgen des 24. Oktober wurden zehn Menschen verletzt.“

Mit der Zeit werden die Getöteten und Verletzten oft nur noch zu Zahlen in Statistiken, die man in den Nachrichten liest. Doch hinter diesen Zahlen stehen echte Menschen: Soldat:innen, die ihr Leben für die Sicherheit ihrer Familien und ihres Landes geopfert haben; Freiwillige, die trotz ständiger Angriffe an die Frontlinie fahren, um Menschen zu retten und zu evakuieren; ältere Menschen, die trotz der Gefahr ihre Heimat nicht verlassen wollen; oder jene, die aus verschiedenen Gründen das Land verlassen mussten und versuchen, ihr Leben neu zu beginnen. Die Geschichten dieser einzelnen Menschen zu erzählen und zu zeigen, wie das Land während des Krieges lebt ist eine weitere, nicht weniger wichtige Aufgabe der Journalist:innen.

Der Krieg hat viele verschiedene Gesichter und hinterlässt unzählige zerstörte Leben. Leider hat sich die Informationsfront weit ausgedehnt, nicht nur über das Territorium der Ukraine, sondern auch weit darüber hinaus. Propaganda ist ein mächtiges Instrument, ein System mit dem Ziel, die gesellschaftliche Situation zu destabilisieren und Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Sie ist wie eine Krebszelle, die sich schnell im Körper ausbreitet und langsam tötet.

Der Kampf an der Informationsfront dauert an und wird noch lange weitergehen. Deshalb ist es heute wichtiger denn je, Informationen kritisch zu hinterfragen und sorgfältig auszuwählen. Solange wir die Stimmen der Menschen hören und ihre Geschichten erzählen, bleibt die Wahrheit stärker als jede Lüge.

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