16.10.2025 von Anastasiia Khlopkova, Russische Föderation

Generation der Nomaden – Wie unabhängige Leitmedien gezwungen wurden, Russland zu verlassen

März 2021. Auf dem Tisch meiner Leiterin der Investigativredaktion ließ ich ein Abschiedsgeschenk zurück – ein Buch über den Moskauer Journalisten und Fernsehmoderator Wladislaw Listjew, der vor 30 Jahren wegen seiner beruflichen Tätigkeit ermordet wurde. Dieses Geschenk erwies sich als symbolisch. Nur wenige Monate später sollte man beginnen, unsere Redaktion auszuschalten und danach auch andere unabhängige Medien. Ohne Vorwarnung und ohne Erklärung wurde die Website unseres Online-Mediums blockiert. Alle meine Kolleginnen und Kollegen sah ich kurz darauf zum letzten Mal bei einer Abschiedsfeier auf Zoom.

Meine Entscheidung, Russland zu verlassen, hing mit dem neuen Gesetz über „ausländische Agenten“ und dem wachsenden Druck auf unabhängige Medien zusammen. Anfang 2021 war mir bereits klar, dass journalistische Arbeit in Russland immer gefährlicher werden würde. Das Etikett „ausländischer Agent“ – angeblich im Interesse von Feinden arbeitend, war in Wirklichkeit nur ein Instrument zur Einschüchterung, Überwachung und Bestrafung von Journalist:innen. Mit diesem Verständnis reiste ich mit einem Studentenvisum nach Deutschland aus und arbeitete weiter aus der Ferne für Open Media.

Doch nur vier Monate nach meiner Abreise wurde unser Online-Medium endgültig geschlossen. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen werde ich nie wieder persönlich sehen; nur einige sah ich später in Europa. Manche leben bis heute in Russland. Doch der Großteil verließ das Land, um weiterhin darüber zu berichten, was in den staatlichen Fernsehsendern nicht gezeigt und in regierungsnahen Zeitungen nicht geschrieben wird.

Bis heute ist unklar, welcher Artikel als Vorwand für die Blockierung diente. Auf Beschluss der Generalstaatsanwaltschaft wurde unsere Website in das Register „verbotener Informationen“ aufgenommen unter Berufung auf Artikel 15.3 des Informationsgesetzes. Dieses Gesetz gibt den Behörden die Möglichkeit, Webseiten wegen angeblicher Aufrufe zu „Unruhen, Extremismus oder illegalen Aktionen“ zu blockieren.

Auf die gleiche Weise wurde im Oktober 2021 auch das Investigativmedium Proekt blockiert. Die massenhafte Sperrung unabhängiger Medien begann jedoch ab Februar 2022 unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Unter dem Vorwand angeblicher „Falschinformationen“ über den Krieg in der Ukraine wurden BBC, Deutsche Welle, Meduza und viele andere Medien blockiert. Einige wie etwa Meduza erhielten zusätzlich den Status „ausländischer Agent“ oder wurden später als „unerwünscht“ eingestuft. Gleichzeitig fanden in ganz Russland Hausdurchsuchungen statt, und es wurden Strafverfahren wegen angeblicher „Fakes über die russische Armee“ eröffnet. Eine systematische Einschüchterungskampagne begann.

Die massenhaften Blockierungen von Medien dienten in dieser Zeit dazu, jede Information zu unterdrücken, die von der staatlichen Propaganda abwich, jener Propaganda, die das Wort „Krieg“ systematisch durch den Begriff „spezielle Militäroperation“ ersetzte. Leserinnen und Leser in Russland nutzen VPN-Dienste, um weiterhin die Artikel zu lesen und die Sendungen blockierter unabhängiger Medien zu verfolgen.

Redaktionen und Journalistinnen verließen massenhaft das Land. Einige fanden Zuflucht in EU-Staaten und anderen Ländern. Deutschland erleichterte die Aufnahme verfolgter Journalist:innen und Aktivist:innen, unter anderem durch humanitäre Visa. Zwischen 2022 und 2025 erhielten rund zweieinhalbtausend Russinnen und Russen, die auch den Krieg in der Ukraine nicht unterstützen, Schutz in Deutschland.

Die Exilierten berichten weiter über Russland und den Krieg in der Ukraine. Doch in der Heimat drohen ihnen Strafverfahren und Gefängnis. So wurde 2023 zum Beispiel der Leiter der Investigativgruppe Conflict Intelligence Team (CIT), Ruslan Lewijew, in Abwesenheit verhaftet, die Organisation selbst als „unerwünscht“ eingestuft. Journalistinnen werden weiterhin in Register für „ausländische Agenten“, „Extremisten“ und „Terroristen“ aufgenommen. Am 21. Oktober 2025 wurde die Doschd-Moderatorin Anna Mongait als „Extremistin“ eingestuft. Das russische Justizministerium aktualisiert jeden Freitag die Liste der „ausländischen Agenten“. Und am häufigsten stehen auf dieser Liste Journalist:innen.

Die russische Propaganda nutzt die erzwungene Flucht von Reporterinnen, um die Bevölkerung gegen unabhängige Medien aufzubringen. Selbst Organisationen, die eigentlich Journalistinnen schützen sollten, beteiligen sich an der Hetze. Der Vorsitzende des russischen Journalistenverbandes, Wladimir Solowjow, erklärte 2024 offen, dass jene, die das Land verlassen hätten, „für den Feind arbeiten“, während die Verbliebenen „dem Staat helfen“.

Totalitäre Systeme führen keinen Dialog mit Andersdenkenden. Sie ziehen es vor, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die keine Angst haben, die Wahrheit auszusprechen. Für ihre berufliche Arbeit wurden in Russland unter anderem ermordet: 1995 Wladislaw Listjew, 2004 der russische Forbes-Chefredakteur Paul Chlebnikow, 2006 die Journalistin der russischen Zeitung Nowaja gaseta Anna Politkowskaja. Diese Liste ließe sich leider fortsetzen.

Leider lebt der russische Journalismus zu oft im Schatten des Todes. Am 30. Juli 2018 wurden in der Zentralafrikanischen Republik drei unserer Kollegen ermordet. Ich erinnere mich, wie unser Investigativ-Team von Open Media am nächsten Tag bis spät in die Nacht in der Redaktion blieb, arbeitete und weiterhin fassungslos nach Informationen suchte. Journalist Orchan Dschemal, Kameramann Kirill Radtschenko und Regisseur Alexander Rastorgujew recherchierten für einen Dokumentarfilm über die Söldner der Wagner-Gruppe von Jewgenij Prigoschin, einem Vertrauten Putins. Damals war es schwer, den Mord an Kollegen zu begreifen. Heute ist es ebenso schwer zu akzeptieren, dass jetzt eine ganze Branche gezielt zerstört wird.

Journalist:innen wurden unfreiwillig zu Nomaden: Sie gaben ihr früheres Leben auf und verließen ihre Heimat, um ihrem Beruf treu zu bleiben. Werden die „verbotenen“ Redaktionen eines Tages nach Russland zurückkehren können? Das weiß heute niemand. Eines aber steht fest: Man kann die Pressefreiheit aus einem Land vertreiben, aber man kann denjenigen nicht die Stimme nehmen, die sich entschieden haben, weiterzusprechen.

Aber jetzt ist es noch März 2021. In fünf Minuten werde ich das Moskauer Büro verlassen. Mein Medium wird noch vier Monate existieren. Und ich weiß noch nicht, dass unsere journalistische Generation eine Generation der Nomaden sein wird.

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