von Laura Moise, Rumänien

Knappe 3.500 Quadratkilometer wilde Natur, über 320 Vogelarten und 45 Süßwasser-Fischarten – das einzige intakte Flussdelta Europas, das 1991 von der UNESCO zum Naturschutzpark erklärt wurde: das Donaudelta. Laut Statistiken gehören davon rund 2.500 Quadratkilometer zu Rumänien, samt seinem einzigartigen Lagunengebiet „Razim-Sinoe“. Ferner in den Norden erstreckt es sich noch weitere 732 Quadratkilometer in die südöstliche Ukraine hinaus. In diesem fast unversehrten Naturparadies leben heute Menschen, für die die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bloß eine Utopie bleibt – im Paradies am Ende der Welt.

Rein statistisch gesehen sind dies einfache Zahlen, ein Punkt auf unserer riesigen Weltkarte. Das grün-blaue Paradies im Osten Rumäniens ist für Touristen von nah und fern die Attraktion schlechthin. Jeder Großstadtbürger träumt irgendwann einmal von einem Abenteuer im abgelegenen und wilden Wassergebiet des Donaudeltas – ein von Menschenhand fast unversehrter Ort. Das wunderschöne Land zwischen den drei Armen „Chilia“, „Sfantu Gheorghe“ und „Sulina“, beherbergt jährlich Millionen von Vogelarten, die aus der fernen weiten Welt herabfliegen, um hier zu nisten. Ein traumhaftes Bild, auf dem bloß ein einziges Merkmal unsichtbar bleibt: für knapp 15.000 Menschen ist es das einzige Zuhause. Die blaue Donau, von der Musiker und Künstler seit Jahrhunderten schwärmen, hat für sie eine ganz andere Farbe – die Farbe des Lebens. Und die ist weder blau noch rosarot.

Zahlen haben an diesem von der Zivilisation entfremdeten Ort gar keine Bedeutung mehr. Ganz bestimmt nicht für diejenigen, die in der Abgelegenheit ihres moorigen Landstrichs den bitteren Alltag erleben. Denn hier scheint die Zeit still zu stehen. Das Leben nimmt den Lauf des Wassers an, es atmet ein und atmet aus, so wie der Fluss seinem Lauf folgt. Mal ist er still und gehorsam, mal strömt er wütend aus der Ferne herab, verwüstet rücksichtslos Land und Mensch, als würde er sich gegen sein ungerechtes Schicksal aufbäumen, seine süßen Gewässer dem allmächtigen Schwarzen Meer übergeben zu müssen.

Die idyllische Landschaft ist vielleicht die einzige schöne Seite für die hier verstreut lebenden und von der Welt vergessenen Menschen. Obgleich auch sie an der Gleichgültigkeit der Gesellschaft leidet. Aus Sorge um den unzureichenden Naturschutz in Sulina im Donaudelta, einem der wichtigsten Feuchtgebiete Europas und Teil des Natura 2000-Netzwerks, hat die Europäische Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien eingeleitet, nachdem der Ausschuss Mängel in der Umweltverträglichkeitsprüfung durch mögliche nachteilige Auswirkungen des „Projekts zum Ausbau der Tourismusinfrastruktur“ auf lokale Lebensräume und Vogelarten entdeckt hatte, meldete die internationale Umwelt-Organisation Natura 2000 im Februar dieses Jahres. Trotz primitiven Lebens ist also das Donaudelta von den Tourismusentwicklungsmaßnahmen gefährdet – ein endloser Teufelskreis: ohne Tourismus besteht für diese Gemeinden umso weniger eine Chance auf bessere Perspektiven.

Vielleicht tröstet sie nur die Donau, der Fluss, der auf seiner „multikulturellen“ Reise nicht nur die Geschichte und Pracht jener Völker mitnimmt, jener Länder, die er durchfließt, sondern auch seine zerstörerische Macht – die Verschmutzung. All dies landet unmittelbar im Lebensraum der Einwohner, der Fauna und Flora aus dem Donaudelta. Auf Dauer sind die Auswirkungen dramatisch. Denn das verseuchte Wasser ist für die dortigen Lebewesen und Menschen Trinkwasser und Vögel und Fische, die darin leben, sind für die Menschen Grundnahrung.

Das, was für viele längst schon selbstverständlich ist, müssen sich die Einheimischen jeden Tag bitter erkämpfen. Von klein auf erlernt jedes Kind den harten Kampf ums Überleben. Schule ist für die meisten von ihnen ein Luxus. Kilometerlange Strecken müssen sie jeden Morgen mit einem improvisierten Boot oder mit einem verrosteten Fahrrad zur Schule befahren. Eigentlich sollten sie sowieso rund um die Uhr im Haushalt mithelfen. Denn jedes Familienmitglied hat hier seine ganz bestimmten täglichen Aufgaben. Bildung kommt dabei zu kurz. Keine Kraft, kein Willen, keine Zeit dafür. Und das System macht ihnen das Leben auch nicht leichter. Matschtige Straßen, Sumpf, keine Kanalisation, Hochwasser, kurz: Armut. All dies sind Begriffe, die hier keinem mehr fremd sind. Das Leben ist für diese Seelen erbarmungslos. So auch die Gesellschaft, die sich ironischerweise stets um die eigenen Angelegenheiten kümmert. Die meisten interessiert es nicht, viele bedauern es, die wenigsten helfen mit. Der Staat scheint dafür keine Ressourcen zu haben, weder finanzielle noch ideologische.

Klar, man könnte meinen, schon immer war der Mensch der Macht der Natur ausgeliefert. Sind wir aber eigentlich nicht unserer eigenen Macht ausgeliefert? Sind wir nicht alle davon betroffen?

Trotz der Tatsache, dass seit 2004 nicht weniger als 200 Millionen Euro in das Projekt zur Förderung des Donaudeltas geflossen sind und damit in erster Linie das Leben dieser Menschen erleichtern sollten – einbezogen der Ausbau von Infrastruktur, Entwicklung von öffentlichen Diensten und Lokaltourismus – scheint der Stillstand immer noch nicht überwunden worden zu sein.

Die Menschen scheinen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft längst schon aufgegeben zu haben. Verschiedene Projekte und Gesetzgebungen hinsichtlich Landwirtschaft und Fischerei in der Gegend, stellen für den Staatshaushalt inzwischen eine feste Einnahmequelle dar, in Wirklichkeit aber kommt dem einfachen Menschen kaum etwas zu Gute.

Aus den großen Plänen und vielversprechenden Papierentwürfen scheint nichts Großes geworden zu sein, die Bewohner „schwimmen“ immer noch in derselben Existenz-Misere und scheinen auch gar nicht mehr den Wunsch zu haben, irgendwann mal aus ihr herauszukommen.

Die Rente oder das Kindergeld sind für viele die einzige Einnahmequelle. Am meisten davon betroffen sind ohne Zweifel die Kinder, die nur schwer Zugang zur Grundschule haben und meistens stellen für sie die Milch und das Hörnchen, die sie in der Schule bekommen, die einzige Mahlzeit am Tag dar. Bittere Armut herrscht in diesem Naturparadies und die Einwohner, arbeits- und ausweglos, entblößt vom Komfort und den Versuchungen der modernen Welt, fallen der Trinksucht und der Gewalt zum Opfer. Mit Termini wie „Verwertung der umliegenden Naturschätze“ und „Förderung der Gegend“ können sie überhaupt nichts anfangen.

Fest steht allenfalls, dass solange der Staat nicht an die Zukunft dieser vergessenen Kinder und Menschen denkt und die Einwohner sich nicht mobilisieren, um aus dem Engpass herauszukommen, wird dieser verblüffende Ort nur eine unverwertete Tourismusmarke bleiben, ein trauriges Museum des Primitivismus – ein Paradies am Ende der Welt.


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