von Natalia Kozachynska, Ukraine

Frühjahr 2004, ich bin in Deutschland als Bundestagspraktikantin. Alle, mit denen ich mich in Deutschland unterhalte, wissen von meinem Land nur den Namen – UkrAine, mit Betonung auf dem "A"; statt der richtigen UkraIne mit der Betonung auf dem "I". Ein klassischer Dialog beim Kennenlernen:
"Ja, und wo ist die Ukraine?"
"Ist das Osteuropa?"
"Echt, ihr habt ein eigene Sprache? Ukrainisch? Merkwürdig..."
"Habt ihr nur in Kiew eine Universität oder auch in anderen Städten (eine Frage von eines deutschen Abgeordneten)?"

Im Jahr 2005, einige Monaten nach der Orangenrevolution. Anfang September. Ich bin in Tschechien zu Gast. Die erste Fragen, die mir von meinen tschechischen Bekannten (zumeist Journalisten) gestellt werden:
"Hey, welche Stimmung herrscht jetzt in der Ukraine?"
"Haben Sie schon Reformen gemacht? Seid ihr mit eurer Regierung zufrieden?"
"Was ist für eine Geschichte mit dem Sohn eures Präsidenten, Viktor Juschtschenko, Andrej? Er besitzt ein teures Auto und gibt viel Geld aus..."

Jetzt, in der ersten Woche im September fahre ich mit dem Bus zurück in die Ukraine – es wird mir ein SMS aus Tschechen geschickt – Julia Timoschenko sei nicht mehr Ministerpräsidentin, Juschtschenko habe ihre Regierung aufgelöst. Ich war zehn Tage nicht in der Ukraine und ohne Zugang zum Internet und wusste gar nicht, was in meinem Land stattfindet. Wie ich dann in Kiew erfuhr, dauerte die Krise schon eine Woche. Wir sind am Freitag in Kiew angekommen, gegen 18.00 Uhr. An diesem Abend lief eine Live-Sendung mit Julia Timoschenko im Fernsehen – noch einmal Primetime für unsere nun schon ehemalige Ministerpräsidentin.

Mein tschechischer Kollege meinte, dass Julia "nicht völlig sauber" und irgendwie mit der Korruption in Verbindung stehe. Allerdings war die eigentliche Ursache der Regierungsauflösung die Korruption der Regierung, nicht aber der Ministerpräsidentin.

Um die Person der ehemaligen Ministerpräsidentin zu verstehen, muss man einen Blick zurück auf die Orangenrevolution werfen: In der Ukraine gab es drei Wahlgänge bei den letzten Präsidentenwahlen. Zwei ungültige und den dritten, laut dem Juschtchenko Präsident wurde. Während dieser Wahlgänge war Julia eine der Personen, die von Anfang an für Juschtschenko waren und echte Unterstützung – moralische und praktische – geleistet haben. Sie war eine Volkstribunin und als die Leute auf dem Maidan (Hauptplatz Kiews) schon müde standen, gab sie ihnen mit ihren Worten die Kraft zum Stehen zurück. Es ist schwer zu sagen, wen die Leute mit größerer Freude hörten: Juschtschenko oder Timoschenko. Als Juschtschenko nach seiner offiziellen Anerkennung als Präsident zum Majdan ging, um nochmals vor dem Volk seinen Eid zu sagen, hielten die Menschen Plakate in den Händen auf denen die Worte "Juschtschenko ist unser Präsident, Julia ist unsere Ministerpräsidentin" standen.

In der TV-Sendung nach ihrem Rauswurf hat Julia einige Namen von Politikern genannt, die Juschtschenko nahe stehen und ihren Rauswurf betrieben hätten. Es waren Politiker, die nach dem Amt des Ministerpräsidenten strebten und sehr enttäuscht waren, als Juschtschenko Julia Timoschenko zur Ministerpräsidentin ernannt hat. Sie sei nicht vom Präsidenten, sondern von seiner Umgebung gekündigt worden, betonte Julia.

Während der Zeit, als sie Ministerpräsidentin war, gab es nicht nur eine Regierung, sondern zwei. Dass heißt, die Minister in der Regierung haben Befehle von Julia bekommen und gleichzeitig, halboffiziell, von einigen Leuten des Präsidenten, und es war wirklich schwierig etwas zu verändern.

Man sagt heute, dass das Leben in der Ukraine viel teurer geworden sei, und ausländische Investoren beeilten sich, ihr Geld in der Ukraine zu investieren. Und Julia sei daran schuld. Oder? Noch als die ersten Wahlgänge in der Ukraine liefen, sagten Wirtschaftsexperten, dass unabhängig davon, wer an die Macht kommt, das Leben in der Ukraine schwieriger werden würde. Die ehemaligen Machthaber mit Kutschma an Spitze, hätten die Wirtschaft in der Ukraine zerstört. Um die Situation zu korrigieren, brauche man viel Zeit. Also, warum jetzt der Vorwurf, Julia sei schuldig?

Julia wird bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr mit einer eigenen Partei antreten. Ohne eine Koalition mit der Partei von Juschtschenko zu bilden. Im Jahre 2009 haben wir Präsidentenwahlen, und wenn sie sich bewerben wird, hat sie wirklich gute Chancen.

Während der Sendung wurde eine Umfrage gemacht, bei der die Zuschauer anrufen und sagen konnten, was Julia machen solle: einen Kompromiss mit Juschtschenko suchen, in die Opposition gehen oder sich an die Menschen wenden (also eine neue Revolution). Die Meisten waren für einen Kompromiss, andere aber auch dafür, sie in die Opposition zu schicken. Julia hat sich für den Kompromiss entschieden. Manche sagen: Sie habe gespielt, wie in einem Theaterstück. Sie sei eine echt begabte Schauspielerin, sie lüge und manipuliere die Menschen. Wieso hat das niemand gesagt, als sie auf dem Maidan stand? Niemand sagte damals, das wäre ein Theaterspiel gewesen.

Die Trennung von Julia und Juschtschenko sehen viele Ukrainer als Zerstörung der Ideale der orangen Revolution an. Viele Ukrainer sind enttäuscht von der Situation in ihrem Land. Die Leute verstehen nicht, warum es keine Verbesserung nach der Revolution gibt. Aber wieso sollten wir erwarten, dass alles so leicht wird? Wir hatten genug Kraft für eine Revolution, wir kämpften einen ganzen Winter auf den Strassen und wir haben es geschafft. Noch vor einem Jahr wusste der durchschnittliche Europäer nichts über die Ukraine, wie sie lebt, was sie fühlt und wonach sie strebt. Jetzt hat jeder von der Ukraine gehört. Alle wissen sogar den Namen des ukrainischen Präsidenten, alle wissen, dass in der Ukraine ukrainisch gesprochen wird. Wir wollten Veränderungen, und wir hatten genug Mut, um sie zu verwirklichen. Ich denke, niemand sollte von dieser Situation enttäuscht sein: das sind Erfahrungen auf dem Weg zu einem würdigen Leben, und das ist nur der Anfang.

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