von Kateryna Lutska, Ukraine

... der Gedanke über die große Menge der Fragen, die mir bevorstand, lang und mühsam zu beantworten, falls ich überleben sollte und wieder frei würde, ging mir durch den Kopf. Dann dachte ich, es wäre besser die Antworten jetzt aufzuschreiben, solange ich noch die Zeit dafür habe, als später hundert Mal auf das Gleiche zu antworten".
Nadija Sawtschenko

In knapp drei Wochen war die 34-jährige Frau mit ihrem ersten Buch fertig. Nadija Sawtschenko hat im Winter 2015 angefangen zu schreiben. Es war der 40. Tag ihres Hungerstreiks. Nicht gerade die beste Zeit für Kreativität. Damals litt sie unter schweren Magenschmerzen, ihr Körper fror die ganze Zeit. Schuld daran waren nicht das Fieber, sondern der Hunger, die Müdigkeit und der Stress. Ihre Arbeit musste sie mit Stift und Papier erledigen, da ihr damals nicht einmal ein Computer zur Verfügung stand. Dann suchte sie nach Wegen einzelne Blätter ihrer Schwester „in den Frieden“ zu überreichen. Manchmal mussten die Papiere in anderen Dokumenten versteckt werden, manchmal dienten sogar ihre Ohren als Versteck. Es tat weh. Aber alles, um von den Aufsehern unbemerkt zu bleiben…

Alles hat geklappt. Und bereits im Herbst lag das fertige Buch auf dem Tisch im ukrainischen Parlament. Auch nicht gerade der passendste Platz, um es zu präsentieren. Die Autorin bekam keine Blumen, sie konnte bei der Präsentation einfach nicht dabei sein. Die improvisierte Veranstaltung hat ihre Schwester durchgeführt. Im Oktober wird die Ausgabe bei der Buchmesse in Frankfurt am Main präsentiert. Für sie ist das eine zusätzliche Möglichkeit die Welt an das Schicksal ihrer Schwester zu erinnern und noch mal darauf aufmerksam zu machen, dass sich Nadija Sawtschenko bereits seit einem Jahr in einem russischen Gefängnis befindet.

„Ich werde Sie um nichts bitten, hier ist bereits alles klar. Das Gericht eines Besatzers kann von Anfang an nicht ehrlich entscheiden. Nichtspersönliches, Herr Richter.“
Oleh Senzow

Oleh Senzow ist zu einer Veranstaltung eingeladen. Im Oktober werden die Tage der Ukraine in Israel stattfinden. Viele ukrainische Regisseure werden dort ihre Filme präsentieren und über aktuelle Aufgaben des Filmes mit ihren Kollegen aus Israel sprechen. Der Film Gámer, der von jungen Menschen handelt, die süchtig nach Online-Spielen sind, steht auch auf dem Programm. Jedoch wird der Autor bei der Präsentation nicht anwesend sein. Im Laufe des Jahres hat er bereits recht viel verpasst. Beim ältesten Filmfestival der Welt, das jährlich auf der Insel Lido in Venedig stattfindet, sollte er Mitglied der Jury sein. Wie auch bei einem anderen Festival in Spanien. Doch bei beiden Veranstaltungen war sein Platz leer.

Vor der Inhaftierung hat Oleh Senzow schon neue Drehbücher geschrieben und sogar einen Preis für seine Arbeit gewonnen. Europäische Experten, die beim Odessa-Filmfestival anwesend waren, vermerkten, dass dieser Film ein hohes Potenzial für die Teilnahme an dem Festival habe. Die Dreharbeiten haben bereits auf der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahre 2013 begonnen. Dieser Ort ist die Heimat des Regisseurs, wo er im Mai 2014 von russischen Kräften festgenommen wurde....

„Diese Fotos zeigen, dass er ein spiritueller Mensch ist...
Es gibt keinen Terrorismus in diesen Bildern.“

die Mutter von Gennadi
y Afanasev

Die Schlange vor dem Eingang in der Kiew-Galerie war riesengroß. Die Leute wollten reinkommen, um endlich die Fotos junger Fotokünstler anzusehen. Es geht um die erste Ausstellung des 25-jährigen Krim-Fotografen Gennadiy Afanasev. Sein Interesse für die Fotografie hat er schon vor langer Zeit entwickelt. Zuerst war es bloß ein Hobby. Erst später verwandelte sich diese Leidenschaft in seinen Beruf. Er hat viele Portraits von Unbekannten gemacht, meistens Frauen. Einmal hat er seine Dienste als Fotograf dem Regisseur Oleh Senzow angeboten. Damit versuchte der junge Mann in die künstlerischen Kreise durchzudringen. Die aktuelle Fotoausstellung hätte auch eine ziemlich hohe künstlerische Resonanz haben können. Stattdessen sprachen die Gäste beim Anblick von zwölf wunderschönen und positiven Bildern eher über Terrorismus und weniger über die ästhetischen Aspekte.

Die Frau mit den langen blonden Haaren und einem traurigen Gesicht, die von Zeit zu Zeit geweint hat, war eine der Organisatorinnen dieser Ausstellung und die Mutter des Autors. „Mit dieser Fotoausstellung möchten wir auf meinen Sohn aufmerksam machen und dafür sorgen, dass die Menschen mehr über ihn erfahren“. Schon mehr als ein Jahr befindet sich ihr Sohn in russischer Haft.

Nadija Sawtschenko, Oleh Senzow, Gennadiy Afanasev. Es ging um drei von elf offiziellen politischen Gefangenen, die schon seit mehr als einem Jahr in russischen Gefängnissen sitzen. Das sind nicht einfach Namen, die ab und zu in der Zeitung erscheinen. Es sind Menschen, die bestimmt andere Plane für ihr Leben hatten. Doch ihre Schicksale wurden stark verändert. Einige, wie zum Beispiel Senzow oder Afanasev, wurden schon von russischen Gerichten bestraft. Andere befinden sich noch in Untersuchungshaft. Manchen droht bis zu 20 Jahren Haft.

Welche Pläne hatten der 25-jährige Student Oleksandr Koltschenko oder der 34-jährige Geschichtslehrer Oleksiy Tschyrniy sowie der 51-jährige Aktivist Mykola Karpjuk für ihr Leben? Bestimmt beinhalteten diese keine russischen Gefängnisse. Doch bis heute hat der ukrainische Konsul keine Erlaubnis erhalten, sich mit den Verdächtigen zu treffen. Einen anderen Ukrainer, der sich im Gefängnis im Kaukasus befindet, darf er auch nicht besuchen. Es geht um einen 41-jährigen Geschichtslehrer namens Stanislav Klich.

Ja, einige von ihnen waren wirklich freiwillige Soldaten. Sawtschenko, Afanasev und Senzow haben auf der Krim an Demos gegen die russische Annexion teilgenommen. Es gibt aber auch Menschen, die mit den Protesten nichts zu tun haben, wie der 73-järige Unternehmer Juriy Soloschenko. Er war Direktor eines regionalen ukrainischen Verteidigungsbetriebs und wurde während seiner Dienstreise nach Russland festgenommen. Momentan sitzt er in Moskau in Isolation und soll wegen „Spionage“ angeklagt werden.

Für das Land, das den Krieg angefangen hat, sind alle schuld. Egal, was sie in ihren Händen hielten: eine Fahne, Waffen oder ein Buch. Für das Land, das den Krieg angefangen hat, gibt es keine Beweise der Schuldlosigkeit. Für das Land, das den Krieg angefangen hat, gibt es noch einen Ausweg. Was ist für einen, zeigt die Geschichte. Es ist schade nur für einen, während dieser unerklärte Krieg weitergeht, stehen die Tage, Monate und Jahre des Lebens einfacher Menschen auf dem Spiel. Alles, was sie wollten, war das Leben in einem friedlichen Land.