von Toms Ancītis, Lettland

Kein anderes Land innerhalb der EU ist russischer als Lettland. Jeder dritte in dem kleinen baltischen Staat mit zwei Millionen Einwohnern ist russischer Herkunft. In der Hauptstadt Riga sind sogar über die Hälfte der Einwohner Russen. Deshalb ist das Thema Ukraine-Krieg, das seit vielen Monaten die Schlagzeilen überall in Europa beherrscht, in der lettischen Öffentlichkeit nicht nur besonders aktuell, sondern wird auch anders wahrgenommen als in vielen westlichen Ländern.

Viele der in Lettland lebenden Russen, auch wenn sie in Lettland geboren sind und ihr ganzes Leben dort verbracht haben, fühlen eine innere Verbindung zu Russland und zum russischen Volk. Sie schauen alltäglich vor allem russisches Fernsehen aus Russland, lesen russische Zeitungen und hören die russischen Hörfunksender. Ein großer Teil der Russen in Lettland unterstützt auch die Handlungen Putins in der Ukraine.

Allerdings herrscht in der lettischen Bevölkerung in letzter Zeit wegen der Ukraine-Krise eine ängstliche Stimmung. Die Menschen fragen sich: wenn niemand Putin stoppt, das weiter zu machen, was er in der Ukraine schon seit Monaten tut, vielleicht zielt er danach auch auf die baltischen Staaten? Im Jahr 1940 wurde das Land von Moskau annektiert und verbrachte danach fast 60 Jahre als Teil der Sowjetunion. Heute ist Lettland zwar Mitglied der EU und der NATO, aber wer kann garantieren, dass die NATO ihre Versprechen halten wird und im Fall eines Angriffs die anderen NATO-Mitgliedsländer die baltischen Staaten verteidigen werden?

Die beiden unterschiedlichen Stimmungen sieht man unter anderem in Zeitungsberichten und Fernsehinterviews, aber im Alltag sind sie nicht besonders spürbar. Beispielsweise habe ich selbst auf dem Rigaer Zentralmarkt vor kurzem einige Interviews über die Meinungen angesichts der Ukraine-Krise geführt. Viele der russischsprachigen Verkäuferinnen, die ich angesprochen habe, wollten darüber überhaupt nicht reden. Mögliche Gründe dafür: Sie haben eine Meinung, die in der lettischen Öffentlichkeit nicht akzeptiert wird. Denn sie unterstützen die Position Russlands und sie denken, dass Russland in der Ukraine wirklich die Russen in der Ukraine verteidigen will. Aber da sie wissen, dass solch eine Meinung in der lettischen Bevölkerung negativ wahrgenommen wird, verschweigen sie lieber ihre eigentliche Meinung. Die lettischsprachigen Verkäuferinnen waren dagegen offener. Sie sagten ganz klar, dass sie sich fürchten, dass es unglaublich ist, was in der Ukraine passiert und dass auch die baltischen Länder sich fürchten müssen, zum nächsten Ziel Putins zu werden.

Gerade die Ukraine-Krise war auch das Hauptthema im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen, die in Lettland im Oktober stattfanden. Schon seit der Wende besteht die politische Landschaft in Lettland einerseits aus sogenannten lettischen Parteien und anderseits aus den Parteien, die als pro-russisch orientiert gelten. Darunter ist bereits seit vielen Jahren das im Parlament vertretene Parteibündnis Harmoniezentrum die stärkste pro-russische Kraft. Das Parteibündnis bildet die größte Fraktion des Parlaments, hat aber bisher noch nie mitregiert, weil die lettischen Parteien eine Zusammenarbeit mit dem Harmoniezentrum ausschließen. Vor den Wahlen argumentieren die lettischen Parteien häufig nach der Devise: „Wenn Sie uns nicht Ihre Stimme geben, dann kommt das Harmoniezentrum an die Macht und das Land wird sich in Richtung Russlands wenden.“ Vor den letzten Wahlen wurde diese Devise besonders stark benutzt und die lettischen Parteien drohten, dass wenn das Harmoniezentrum an die Macht käme, dann bestünde die Möglichkeit, dass das Szenario der Ukraine sich auch in Lettland wiederholen könne.

Was ist eigentlich der historische Grund dafür, dass die Bevölkerung in Lettland so stark ethnisch und politisch gespalten ist?

Einer der wichtigsten ist: Lettland hat nicht immer eine so große russische Minderheit gehabt und die ethnische Spaltung ist die Folge aus der Zeit des Sowjetregimes. Vor dem zweiten Weltkrieg war der Anteil der Letten in der Bevölkerung 79 Prozent und die Russen waren nur eine kleine Minderheit neben den Minderheiten der Deutschen, Juden und anderen. Später aber schrumpfte der Anteil der Letten deutlich, vor allem aufgrund von Repressionen und Einwanderung. Es gibt kein Land in der ehemaligen Sowjetunion, das während der Sowjetzeit eine noch stärkere Einwanderung aus den anderen sowjetischen Ländern erfuhr als Lettland. Im Zeitraum von 1945 bis 1959 kamen rund 400.000 Menschen aus den anderen Republiken in Lettland an. In den nächsten 40 Jahren wanderten nochmal 700.000 Immigranten zu. Da Lettland nach dem zweiten Weltkrieg nur insgesamt ungefähr 1,5 bis zwei Millionen Einwohner hatte, verursachte diese Einwanderung dramatische Änderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung des Landes. So lag im Jahr 1989 der Anteil der Letten nur noch bei 52 Prozent – sie waren also fast eine Minderheit geworden in ihrem eigenen Land. Der Rest waren Russen und andere Nationalitäten. Dafür, gerade nach Lettland umzusiedeln, hatten sich die Einwanderer während der Sowjet-Zeit vor allem aus wirtschaftlichen Gründen entschieden. Lettland galt damals im Vergleich mit den anderen sowjetischen Ländern als reich. Die Sowjetunion führte eine Industrialisierungspolitik durch und es fehlte an Arbeitskräften.

Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands hielt sich die so genannte Doktrin vom Fortbestand. Dies heißt, dass Lettland rechtlich während all dieser Jahre als Republik existierte, obwohl es formell Teil der Sowjetunion war. Tatsächlich aber hatte die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung sich bereits stark geändert – die Einwohner des Landes waren nun ganz andere als die, die vor dem Jahr 1940 im Staat gelebt hatten. Als Versuch der Politiker, diese Folgen der Besatzung – die große Einwanderung – zu revidieren, wurde damals der Status des Nichtbürgers eingeführt. Dies bedeutet, dass eine Gruppe, etwa zwei Drittel der Bevölkerung – deren Vorfahren schon vor 1940 im Staatsgebiet Lettlands beheimatet waren – die Bürger bildeten. Die anderen 700.000 Menschen, die während der Sowjet-Zeit Eingewanderten und ihre Kinder, wurden zu sogenannten Nichtbürgern. Dies waren vor allem Russen, aber auch Ukrainer, Litauer, Rumänen und andere. Die Nichtbürger haben knapp 80 rechtliche Einschränkungen. Beispielsweise haben sie kein Wahlrecht, sie dürfen weder als Polizisten, noch als Richter, Staatsanwälte, oder ähnliches tätig sein.

Es wurde gleich nach der Wende ziemlich naiv gehofft, dass die Nichtbürger das Land verlassen würden. Teilweise ist dies wirklich passiert – ein Teil der Nichtbürger reiste ab und die beantragte die russische oder eine andere Staatsbürgerschaft. Ein anderer Teil hat die lettische Bürgerschaft durch den Naturalisierungsprozess erhalten. Dafür muss man nur ein Examen der lettischen Sprache und Geschichte bestehen. Dies trifft jedoch nicht auf alle zu. Bis heute sind immer noch rund 270.000 Einwohner Lettlands sogenannte Nichtbürger.

Besonders viele Nichtbürger und viele Russen leben zum Beispiel in der zweitgrößten lettischen Stadt Daugavpils, die in der Nähe der Grenze zu Russland liegt. Beim Referendum über die Einführung von Russisch als zweite Amtssprache, das in Lettland vor zwei Jahren stattfand, waren 85 Prozent der Stimmberechtigten in Daugavpils dafür, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Deswegen haben die lettischen Rechtspolitiker, kurz nachdem die Ereignisse in der Ukraine begannen, gewarnt: Daugavpils sei Lettlands kleine Krim. Würde dort abgestimmt werden wie auf der Krim, wäre die Mehrheit sicher auch für einen Anschluss an Russland.

Die Soziologen und Politiker von Daugavpils, mit denen ich gesprochen habe, sehen das allerdings anders. Die Presse braucht einfach Sensationen. Sie müssen irgendwas finden, das schockiert. Aber in Wahrheit ist Daugavpils keine Krim und kann keine Krim werden. Und das nicht nur, weil Lettland ein Mitglied der NATO ist. Zum einen finden die Einwohner von Daugavpils nicht, dass diese Stadt „immer ein Teil Russlands gewesen ist“, wovon viele Einwohner russischer Herkunft auf der Krim überzeugt sind. Sie verstehen, dass ihre Familien, obwohl sie dort geboren wurden, eigentlich Zuwanderer sind.

Sehr viele Menschen der alten Generation vermissen allerdings immer noch ihre verlorene Welt – die Sowjetunion. Sie sehen die Sowjetunion als eine ideale Welt, ein verlorenes Paradies. Sie sind der Überzeugung, dass das heutige Russland ihnen die gleichen Möglichkeiten bieten könnte, die ihnen einst die Sowjetunion gab. Hier geht es nicht so sehr um politische Faktoren, sondern im Großen und Ganzen nur um den sozialen Wohlstand. Sie erinnern sich, dass in der Sowjetunion jeder eine kostenlose Gesundheitsversorgung hatte, einen Job, niedrige Wohnungshaltungskosten. Es gibt auch viele, die ihre Idealisierung Russlands mit einem spezifischen Konzept verbinden: der Größe. Lettland ist ein kleiner Staat, aber Russland ist groß. Sie sagen: „Ich will nicht in irgendeinem kleinen Land leben, sondern zu dem großen gehören.“ Dieses Gefühl ist seelisch sehr tief in ihnen verankert.

Mit der jungen Generation ist es anders. Sie sind tief in die EU integriert. Sie genießen die Reisefreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wenn sie mit dem Leben in Lettland nicht zufrieden sind, dann fahren sie nach Großbritannien oder nach Irland, Norwegen usw. um dort zu arbeiten. Sie fühlen eine Verbindung zu Russland, aber sie würden dort nie leben wollen. Viele sind überhaupt noch nie in Russland gewesen. Und diejenigen, die Russland einmal besucht haben, haben sich überzeugt, wie die Leute auf der anderen Seite der Grenze leben. Und das Leben ist dort wirtschaftlich nicht besser, sondern schlechter.


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